2015 war manches anders im Crucible. Es gab noch keine Zonenunterteilung hinter den Kulissen und der berühmte Hintergrund, vor dem die Spieler in den frühen Runden ihren Walkon starten, war aus einfacher Pappe. Die Presseplätze waren direkt hinter den Fernsehkameras und manchmal saßen da britische Promis, die ich nicht kannte, neben Snookerbloggern aus verschiedenen Ländern, die jeder kannte. Es war alles sehr unbedarft damals. Wenn ich heute daran zurückdenke, mit welcher Begeisterung aber auch mit welcher Selbstverständlichkeit wir vor der Eröffnungssession Erinnerungsfotos zwischen den Tischen gemacht haben, muss ich lachen. Dass Mark Selby bei meiner ersten Crucible-Session als erstmaliger Weltmeister und Titelverteidiger direkt vor meiner Nase in die Arena gerufen wurde, erscheint mir heute noch als viel größerer Wahnsinn als damals.
Es gab Champagnerpressekonferenzen mit Barry Hearn, heute habe ich das Bedürfnis, aus Versehen ein Glas Rotwein auf seinem viel zu weißen Hemd auszukippen. Damals hing im Bereich hinter den Kulissen ein intensiver Theatertechnikgeruch in der Luft, der mich beim Kofferauspacken daheim noch einmal ganz deutlich daran erinnerte, wo ich gerade herkam. Zehn Jahre später weht Luft aus einem neuen Belüftungssystem durch das Crucible, der Theaterdunst ist verschwunden. Die guten alten Zeiten im Städtchen Sheffield ganz offensichtlich auch. Der Radius des idyllischen und malerischen Snookermärchenlands ist deutlich enger geworden. Sogar der letztes Jahr noch sehr gehypte und beworbene Ronnie Shop direkt neben dem Crucible ist offenbar pleite gegangen und einem noch weniger sinnvoll wirkenden Laden gewichen.
Aber Sheffield ist auch lauter geworden, um gegen Barry Hearn anzubrüllen. “Sheffield loves snooker” steht da überall in großen Buchstaben. Das wirkt hübsch, aber auch eine halbe Ballbreite zu bemüht. Es gibt mehr Fake-Gras beim Public Viewing, mehr Minitische, mehr Liegestühle und einen instagramtauglichen Riesenliegestuhl mit Riesenbotschaft “SHEFFIELD LOVES SNOOKER”, der mich an ein deutsches Möbelhaus erinnert. An das German Masters denkt man auch im Presseraum immer gerne zurück. An Eröffnungsabend gab es Gulasch beim Pressecatering. Einige WST- Mitarbeiter rätselten, was das wohl sein möge. Ihr berlinerprobter Kollege Roddy dann eiskalt: “Das, was es jedes Jahr jeden Tag beim German Masters gibt”. Wunderbar, wir bleiben präsent, auch wenn der Presseraum im Crucible natürlich viermal so groß ist wie in Berlin. “BERLIN LIEBT SNOOKER” und falls das Crucible mal zwei Jahre renoviert werden muss, um noch mehr Sitze einzubauen und VIP-Plätze mit Butler-Service zu ermöglichen, gehört die WM für ein einmaliges Gastspiel ins Tempodrom.
Ansonsten werde ich aber hoffentlich auch 2035 noch aus dem Crucible berichten. Dass Ivan Hirschowitz damals Leute ins Crucible geholt hat, die nicht hauptberuflich als Snookerjournalist:innen arbeiten, werde ich ihm nie vergessen. Dass ich immer wiederkommen darf, ist ein Privileg. Dass ich diesmal eine Session vom Balkon aus verfolgen durfte, ist mir nach wie vor völlig unvorstellbar. Aber Snooker ist der Sport, der für Fans manchmal das Unvorstellbare möglich macht. Und dann manchmal vergisst, was seit 1985 alles an solchen unvorstellbar tollen Momenten passiert ist. Allein in meiner Crucible-Erinnerungsgallerie sind schon so viele von ihnen versammelt: Die Debüts von David Grace und Michael Georgiou, bei denen ich jeweils eine ganze Session lang nicht geatmet habe. Die vielen Crucible Eves mit Freunden und solchen, die es werden würden. Adrenalingefüllte Entscheidungsframes, gebrochene Herzen, Gossip, Great Shot Banners. Hektik vor der Abendsession, Gespräche im Foyer vor der Morgensession, überhaupt jede Eröffnungssession, überhaupt jede Session. Nach jedem Frame erscheint im Live Scoring vor Ort eine Frage an den Marker: “Are you sure you want to end the frame?”. Die ehrliche Antwort ist manchmal “Ja bitte endlich”, aber noch viel öfter “Ach, ich könnt eigentlich noch ein bisschen weitergucken” – die nächsten zehn Jahre zum Beispiel. Im Crucible. Snooker loves Sheffield.
Kathi