Live aus Berlin (5) – Momente, die bleiben

Posted on January 30, 2022 by Kathi

Ich war Shaun Murphy. Nein, wirklich. Zumindest für ein Weilchen. Erinnert ihr euch an das Feature, in dem Shaun zeigt, was so in seinem Queue-Koffer ist? Ja genau, das Video ohne echten Inhalt, in dem er zu einem Gemüseschäler-Fachverkäufer wird und alle seine Lieblingsmarken in exakt 90 Sekunden anpreist. Das war ich. Also fast. Ich war das Double von Shaun und sollte vorher den Kameratestlauf machen. Eine lustige Erfahrung, während der ich mich allerdings auf die Zehenspitzen stellen musste. Und mich fragte, ob ich figurtechnisch vielleicht beleidigt sein sollte.

Es sind oft diese kurzen, flüchtigen, unerwarteten Momente, die den ganz besonderen Reiz von Live-Snooker ausmachen. Flüchtig wurde eine zeitlang auch Lü Haotian in seinem Match gegen Mark Allen. Er suchte den richtigen Ausgang für eine kleine Toilettenpause, wusste aber vor lauter Tischen und Türen (die auch noch in unterschiedliche Richtungen aufgehen, jedes Jahr wieder ein Rätselspaß für die ganze Snookerfamilie) gar nicht, wo er hinsollte. Mark Allen tippte ihn daraufhin sanft und fürsorgevoll mit seiner Queue-Spitze an, um ihn in die richtige Richtung zu schicken. Für den Weg zurück brauchte Lü dann aber trotzdem so lange, dass ich schon befürchtete, er sei angesichts des Spielstands aus der Arena geflohen. Auch auf dem Tisch verlor er in der Folge leider die Orientierung, Mark Allens Kompass funktionierte dagegen bis zum Halbfinale einfach unschlagbar gut.

Weniger gut funktionierte die Feder-Technik von Barry Pinches, der mit einem High Break von -8 Punkten gegen Mark Selby aus dem Turnier flog. Zeitweise federte er vor dem Stoß so stark, dass er abzuheben drohte. Wenn man in der Arena ist, wirkt das durchaus noch einmal extra hubschraubermäßig. Fast so wackelig wie ein Hubschrauber sind manche Lochversuche diese Woche. Auch hier zahlt sich die erfrischende Tribünen-Perspektive direkt im Tempodrom aus. Ein gelber Ball ist mir in Erinnerung geblieben, den Neil Robertson in der Mitteltasche klappern ließ am ersten Berliner Abend. Das wirkte gleich so viel dramatischer in der Arena, fast wie eine Pressekonferenz von Shaun Murphy. In diese Kategorie gehören auch ein paar unmöglichmögliche Doubles von Yan Bingtao und linealgezogene Taschenmitte-Bälle von Ricky Walden. Wirklich frame-verändernd. Und fan-verändernd, so ein Perspektivenwechsel.

Aber für all das Spektakel wird auch hart gearbeitet beim Snooker – und das mit vollem Körpereinsatz. Weil das Stativ streikte, musste Alex vom WST-Presseteam die Kamera bei Judd Trumps Interview selbst stillhalten. Judd ist normalerweise in solchen Interviews kein Mann großer Worte, außer er will weniger Fliegen und mehr Strass-Steinchen in den Dresscode integrieren. Doch in genau diesem Moment entwickelte er ein noch nie gesehenes Mitteilungsbedürfnis. Da hatte Alex mehr Arbeit als Judd selbst vorher im ganzen Match gegen Zhou.

Trotzdem war das noch lange nicht der seltsamste Job, den ich dieses Jahr im Tempodrom entdeckt habe. Wasser ist im Snooker essentiell, man braucht ja etwas zum Nippen, um sich die Wut über den vergebenen Frameball nicht anmerken zu lassen (außer man ist Ryan Day). Woraus dabei genippt wird, ist keine triviale Frage. Das Modell “Weinflasche beim Junggesellinnenabschied” haben wir in den letzten Tagen öfters gesehen, aber auch das Modell “unbeschriftete Plastikflasche” ist ein alter Klassiker. Aber, Freunde, wo gibt es denn unbeschriftete Plastikflaschen zu kaufen? Beim Discounter um die Ecke vom Tempodrom jedenfalls nicht. Und deshalb sind die unbeschrifteten Plastikflaschen eigentlich ganz normale Pfandflaschen, bei denen in der Players Lounge die Etiketten erst entfernt, temporär an eine Säule gepappt und dann später wieder draufgeklebt werden. Ist klar, gibt sonst ja kein Pfand. Klingt nach Arbeit? Na ja, eine Wasserumetikettiermaschine habe ich jedenfalls nirgends gesehen. In diesem Sinne: Prost, auf ein tolles Finale!

Kathi