“Bitte links abbiegen” ertönt es während der Session aus einem Handy, das sich offenbar im Navigationsmodus befindet. Alles klar, denkt sich Si Jiahui und lässt eine weitere Rote in die linke Ecktasche abbiegen. Er ist voll im Fokus, auf Autopilot spielt er sein gefühlt zehntes hohes Break des Tages. Der Applaus ist riesig, aber trotzdem ist er für Kyren Wilson dann doch noch riesiger. Das Publikum spielt mit in den Halbfinals, das kann man gar nicht anders sagen. Aber auch davor schon. Wenn Johnny Potalot, unser neues Lieblingsmaskottchen, frech zu Rolf Kalb ist. Wenn Rolf Kalb einfach wie immer Rolf Kalb ist. Wenn unsere Schiri-Legenden Maike Kesseler und Marcel Eckardt in die Arena gerufen werden. Wenn Judd Trump plötzlich für den Walkon bereit steht und man ihn schon entdecken kann, obwohl die Übertragung noch nicht begonnen hat. Da wird applaudiert, applaudiert, applaudiert – wie schön, dass an der Begeisterung nicht gespart wird, auch wenn die Tempodrom-Cola 6€ kostet.
Kyren Wilsons neues Lieblingsmaskottchen ist nicht Johnny Potalot, sondern die Kyren-Krähe, die im Tempodrom öfters mal etwas reinruft, das entfernt nach “come on, Kyren” klingt – aber in einer Tonlage, die man nur nachmachen kann, wenn man dabei alle Stimmbänder aufs Spiel setzt. Doch es lohnt sich, denn Kyren zeigt als Reaktion mit nur einem Wegdrehen und einem Blick, wie gerührt er von der Unterstützung der Fans in Berlin ist. Es menschelt sehr, wenn Kyren spielt – und das wissen die Fans hier zum Glück mindestens so zu schätzen wie die (Nicht-)Auftritte der unnahbaren Lichtgestalten. Doch auch Si Jiahui verdient den wärmsten Applaus. Wenn er mit seinen aufgeblasenen Entrüstetplanlosverzweifeltaberdagehtschonwas-Bäckchen am Tisch steht oder auf dem Tisch hängend erstmal seine schlaksigen Arme in Position knoten muss, muss man ihn einfach knuffig finden. Wenn er sich das mit dem englischen Interview noch nicht zutraut, obwohl er bestens versteht, dass man gerne ein englisches Interview hätte, auch. Der wird uns die nächsten Jahre noch viel Spaß machen.
Wenn wir beim Spaß sind: Das erste Halbfinale glich schon einem Finale. Von hohen Breaks über Gestöpsel, Flukes und magische Bildentwicklung hin zu zwei gefühlten Entscheidungsframes war alles dabei. Kompakt, einsteiger:innenfreundlich, ein großer Spaß eben. Und da hat Turnierfavorit und Gewinner des jährlichen TrumpVictor-Bonus Judd Trump noch gar nicht gespielt. Der ist gerade am Abend dran gegen Sam Craigie, der jetzt von Chris Henry trainiert wird, der sich wiederum im Presseraum nach dem Interview gerne darüber aufregt, weshalb der Sam da gerade so lange nachdenkt bei dem Stoß. Erstes Mal Halbfinale, und dann in Berlin vor der Rundumpublikumswand, da kommt man schon mal ins Nachdenken. Aber das hat der Chris Henry ja schon ganz anderen abtrainiert…
Und damit heißt es jetzt auch für uns Alltagsgedanken ausschalten, Halbfinale genießen, Stimmbänder für morgen ölen, Hände rechtzeitig zum Klatschen warmreiben und das große Berliner Snookerspektakel auf den letzten Metern noch einmal richtig genießen.
Kathi