Euch wird das alles zu emotional mit den Abschieden von Rolf und Paul? Keine Sorge, hier seid ihr richtig. Normalerweise ist Snooker eine gute Ablenkung von den Emotionen des Alltags, heute brauchen wir eine Ablenkung von den Emotionen des Snooker. In Sheffield würde man dafür ins Graduate gehen, jene legendäre Stammkneipe der Fans direkt neben dem Wintergarten gegenüber vom Crucible. Eigentlich ein recht unscheinbares Pub mit klebrigen Tischen und einer abstrusen Auswahl an Bieren (dieses komisch himbeerfarbene will ich unbedingt nächstes Jahr probieren). Aber hier liefern sich Snookerlegenden Rededuelle, hier plaudern Journalisten aus dem Nähkästchen, hier fällt dir auch mal ein angeheiterter Fan um den Hals, weil man sich ja von Twitter kennt. Dass Mark Selby hier am Crucible Eve vorbeigeschaut hat, gibt mir Hoffnung, was seine Snookerfreude und seine Karriereverlängerung angeht. Trotz seines frühen Ausscheidens hat Mark Selby bei mir für den größten Lacher der WM gesorgt, als der vor der Session hinter dem Schreibtisch des Turnierdirektors auf dessen Bürostuhl chillte. Füße auf dem Schreibtisch, bereit, nervige Emails von den Sponsoren und der Livescoringabteilung direkt zu löschen.
Da wusste er auch noch nicht, wie gut Joe O’Connor spielen würde. Zusammen mit Felix Frede legte der das absolut beste Debüt der WM hin – und das absolut nicht nur, weil es die absolut einzigen Debüts waren! Joe lief am Abend vorher noch völlig unscheinbar und unerkannt durch die dunklen Straßen Sheffields mit seinem Queue in der Hand von der Trainingssession ins Hotel zurück. Und brav an der Kneipe vorbei, die Omas warteten bestimmt schon auf die Erzählungen aus dem Crucible. Wie es wohl an den Trainingstischen riecht? Ob sie ihm Riechsalz mitgeben sollen? Lavendel? Baldrian brauchte er jedenfalls zu keinem Zeitpunkt, den brauchten eher die Selby-Fans.
Eher selten sind im Graduate auch die Nichtsnookersupersportler wie Rob Walker anzutreffen, der ja morgens noch seinen Lauf absolvieren muss – die gefühlten fünf Meilen in der Arena pro Tag reichen ihm natürlich nicht. Rob ist jetzt auch schon wirklich lange dabei beim Snooker. Früher oft belächelt wegen mangelnder Fachkenntnis sitzt er heute im Presseraum mit einer Packung Satsumas, der immer geöffneten CueTracker-Website und ganzen Papierstößen an Notizen, die auch wirklich nur er lesen kann. Vielleicht ist er manchmal ein wenig zu stolz auf seine optische Ähnlichkeit zu Tom Ford oder zu investiert in das Liebesleben von Dominic Dale – aber sind wir das nicht alle? Es war datingmäßig leider wenig los dieses Jahr, kaum überschminkte Spielerfrauen oder Neuverbandelungen zu vermelden. Ein Blick in die Proteinpulversammlung von Kyren Wilsons Bruder war da schon das höchste der Gefühle. Und die 1980er-Valentinstagskrawatte von Robert Milkins beim Media Day vielleicht.
Mit Hossein Vafaei ist das große Nörgeldrama dann auch mal wieder früh ausgeschieden. Wir haben ja noch eine Rechnung offen, liebe Leserinnen und Leser. Mit Hossein Vafaei und dem Crucible. Und dem Geruch an den Trainingstischen. Ich bin für euch investigativ schnuppern gegangen. Es riecht nicht nach Rosenwasser und das glamouröseste an dieser Backstage-Ecke ist das bedrohliche Schild, dass hier nur Leute mit Akkreditierung erlaubt sind. STRICTLY! Aber stimme ich deshalb Hossein Vafaei zu? Im Gegenteil – mir ist dieses Jahr aufgefallen, dass der übliche Crucible-Geruch sogar weg war. Schlecht gerochen hat es backstage nie, aber eigen. Nach Theateraufbauten und Snookerumbauten und der großen Bühne. Da hast du daheim den Koffer aufgemacht und direkt wieder gemerkt, wo du gerade herkommst. Und wo du wieder hinwillst!
Diese WM war vielleicht die emotionalste, die ich bisher mitgemacht habe. Es war mir wie immer eine Freude und Ehre, euch nach Sheffield mitzunehmen. Neben den herzallerliebsten Fans in der Arena Snooker zu gucken. Mit Paul und Marcel und Matt und all den Journalisten zu plaudern. Mich über die Freunde der Sonne zu amüsieren, die in jeder Session mit 2-5 Bier pro Frame neben mir saßen und im Graduate besser aufgehoben gewesen wären. Morgens nach einem englischen Frühstück mit Christian zu quatschen und ihn dann den ganzen Tag mit Texten und Aufnahmen zu bewerfen, wie sonst nur Judd Trump Exhibition-Bälle wirft. Hier und da ein kleines Stuart-Bingham-2015-Deja-Vu zu genießen. Auf dem Weg zum Bahnhof zum Crucible zurückzuschauen. Und doch bei allen Veränderungen auch jetzt schon auf das Crucible 2025 vorauszuschauen.
Kathi