Tradition kontra Moderne - der schmale Grat

Posted on August 16, 2022 by Chris

Es gibt kaum einen Sport, der so sehr durch seine Traditionen lebt, wie Snooker. In welcher anderen Sportart findet man einen teilweise ungeschriebenen Verhaltenskodex, an den sich ungefragt und ganz selbstverständlich jeder hält? Stellt euch mal vor, Fußballer*innen oder Leichtathlet*innen würden in Weste und Fliege auflaufen oder jegliche Schwalben sofort melden. Das ist auf der einen Seite natürlich sehr schön, birgt aber auch Gefahren, wenn man eine Sportart in die Moderne heben will und für neue, junge Zuschauer attraktiv machen möchte. Genau das muss man aber versuchen, will man weiterhin für genug Nachwuchs und steigendes Interesse sorgen. Dabei geht es gar nicht unbedingt nur um Turnierformate und angehobene Preisgelder, sondern auch um Marketing, Dresscode, Kommentar und TV-Übertragungen. Dieser Artikel versucht zu beleuchten, wie man den schmalen Grat zwischen Traditionsbewusstsein und Moderne wahren kann.

Krawatte oder Fliege?

Ein Punkt, der sich in der Vergangenheit auch durch einige Interviews von namhaften jüngeren Spielern zieht, ist die Fixierung auf ältere, legendäre Spieler und die allgemeine Innovationsarmut, den Sport aus der Vergangenheit und der Tradition in die Moderne zu heben. Zum einen wird das am Dresscode festgemacht, den sich einige Spieler offener wünschen würden. Die Parallele zum Golf kommt dabei fast zwangsläufig auf. Dass einige jüngere Spieler keine Fans von Westen sind, ist schon länger bekannt, aber viele vergessen in dieser Hinsicht einen wichtigen Punkt. Der Dresscode im Snooker ist nicht nur an Tradition gebunden, sondern auch ein Stück weit Aushängeschild für den sogenannten Gentleman-Sport. Man darf hier natürlich gerne mehr Abwechslung reinbringen, was beispielsweise auf der PTC-Tour oder einigen anderen Turnieren schon versucht wurde – mal mehr und mal weniger stilsicher. Dazu gehört das Tragen von Polo-Shirts oder der Wechsel von Fliegen auf Krawatten. Diese Änderungen müssen aber in jedem Fall zum jeweiligen Eventrahmen passen und wären beispielsweise bei traditionsreichen Turnieren wie dem Masters oder der Weltmeisterschaft unangebracht.

Alte und neue Gesichter

Kommen wir zur bereits erwähnten Fixierung auf die Top-Stars und Legenden im TV. Einigen Akteuren stößt sauer auf, dass Spieler aufgrund von sportlichen Leistungen, die bereits 15-20 Jahre zurückliegen, automatisch weiter im Rampenlicht stehen. Dabei ist natürlich von Spielern wie Stephen Hendry, Ken Doherty oder Jimmy White die Rede, die immer noch den Vorzug vor jungen Talenten bekommen, wenn es um Highlight-Einspielungen in TV-Produktionen, Experten-Auftritte in Studios oder Marketing-Maßnahmen geht. Auch das teilweise stringente Vorgehen anhand der Weltrangliste, wenn es um die Platzierung in Stream- und TV-Matches geht, ist immer wieder Grund für Diskussionen. Kyren Wilson sinnierte mal darüber – vermutlich sehr zum Wohlwollen einiger verliebter Fans – ob er nackt antreten solle, um an den TV-Tisch zu dürfen. Die zugehörige Debatte um diese Bevorzugung ist so alt wie der Autor dieses Textes. Hier treten stets die gleichen Argumente gegeneinander an. Der Wunsch der Turnier-Promoter, große Namen für hohe Einschaltquoten zu nutzen, gegen den Wunsch der Fans, ihre Lieblinge oder auch mal ein paar frische Namen anschauen zu dürfen.

Genau hier wäre tatsächlich ein guter Ansatzpunkt, um für Abwechslung zu sorgen und den Sprung in die Moderne zu schaffen. Zu oft sieht man die immer gleichen Spieler im TV. Zu oft sieht man in den frühen Runden ein lahmes 4:0 eines Top-Spielers gegen einen bemitleidenswerten Neu-Profi, der sein erstes Match auf großer Bühne absolviert. Zu oft sieht man die knappen, spannenden Duelle zweier gleich guter Spieler eben nicht, weil sie auf Tisch 13 zwischen Herren-WC und Garderobe spielen müssen. Hier wäre dringend mehr Diversität angesagt – und gerade mit den häufig angewandten Flat Draws hat man eigentlich genug Möglichkeiten, eben nicht nur strikt nach Weltrangliste und Instagram-Follower-Anzahl vorzugehen. Das Problem dabei wäre wohl trotzdem, dass vermutlich umgehend ein großer Aufschrei kommen würde, warum denn das Match von Ronnie O’Sullivan oder Judd Trump nicht live gezeigt wurde.

Damals war alles besser

Kommen wir noch kurz zurück zum Thema Berichterstattung und Kommentar. Snooker verlässt sich in dieser Hinsicht tatsächlich ein wenig zu sehr auf die Strahlkraft der 80er-, 90er- und Anfang 2000er-Jahre. Sowohl in der Vermarktung der Spieler als auch im Kommentar- und Medien-Bereich hängt man in einer Nostalgie fest, die sich in ein paar Jahren bitter rächen könnte, wenn Spieler wie Jimmy White, Stephen Hendry, John Higgins und Ronnie O'Sullivan ihr Queue endgültig in den Keller stellen. Natürlich hat das Comeback von Hendry und das vielbeachtete Duell mit Jimmy White diese Thematik gerade zur Weltmeisterschaft 2021 nochmal auf ein höheres Level gehoben, aber auch ohne diesen größten Zufall des Jahres wäre hier Kritik angebracht.

Zu jedem Turnier werden die einstigen Erfolge von Spieler XY aus dem Hut gezaubert und die immer gleichen Clips hervorgeholt, die Anno 2022 mit ihren 147 Pixeln so passend historisch wirken. Irgendein Ereignis jährt sich doch schließlich immer zum 15., 20. oder 30. Mal. Insbesondere bei der BBC fällt diese übertriebene Nostalgie-Brille unschön auf, während British Eurosport – was sie gerne auch mal in Deutschland machen dürften – gelegentlich mit aktiven Profis als Kommentatoren etwas offener agiert. Snooker hätte eigentlich genügend aktuelle Stars und viele sensationelle Stories zu bieten, ohne dass man ständig an die goldene Ära erinnert werden muss, die inzwischen eher eine stark ergraute Ära ist.

Schnelles Spiel als Allheilmittel?

Doch was kann man tun? Ein häufig angesprochener Ansatz ist, das Spiel an sich attraktiver zu machen. Der Wunsch nach schnellem, offensivem, flüssigem Spiel sei vorhanden. Aber ist das wirklich so? Klar ist es auf den ersten Blick schön, Centuries und Maximum Breaks zu sehen und zwei Spieler zu haben, die sich die langen Bälle nur so um die Ohren schießen. Doch zum Snookerfan wird man doch eigentlich auch durch diese beeindruckenden Safety-Duelle und diese langen 50-minütigen Kampf-Frames, in denen alles schief zu gehen scheint, was schief gehen kann. Diese mit den Händen greifbare Spannung – die man beim zuvor erwähnten 4:0 von Top-Spieler X in Runde 1 eben nicht hat – wenn um einzelne Bälle so hart gekämpft wird, dass das Midsession Interval zur ersehnten Erholung einfach notwendig ist. Erinnern wir uns zurück an die beiden Entscheidungsframes im Halbfinale der Weltmeisterschaft 2020, als Kyren Wilson und Anthony McGill und wenige Stunden später auch Mark Selby und Ronnie O’Sullivan eine so aberwitzige und unterhaltsame Show geboten haben, über die man noch in Jahren sprechen wird (nur nicht bei der BBC). Ich kann mich nicht erinnern, dass sich hier jemand über unattraktives Spiel beschwert hätte.

Wer sich langfristig mit dem Sport auseinandersetzt und nicht nur Fan von einem Spieler ist, wird auch die taktische Komponente lieben lernen. Diese ist nun mal ein großer Teil von Snooker und sollte auch nicht vergessen werden. Nahezu jeder Sport teilt sich in Angriff und Verteidigung und eine ausgewogene Balance von beidem ist nicht selten der Schlüssel zum Erfolg. Es sieht zudem nicht danach aus, dass zu viele Spieler ihr Heil im bedächtigen Spiel suchen. 125 der 174 Spieler, die in der Saison 2021/2022 mindestens ein Match auf der Main Tour absolviert haben, weisen laut der Statistik-Seite cuetracker.net eine durchschnittliche Stoßzeit von unter 25 Sekunden auf, nur 10 Akteure lagen über 30 Sekunden. Innerhalb der Top 16 der Weltrangliste gibt es mit Yan Bingtao nur einen Spieler, der mit 25,2 Sekunden denkbar knapp im dazwischen liegenden Bereich zu finden ist. Es sieht also nicht danach aus, als hätte man ein Problem mit zu langsamen Spielern.

Fazit: Alles kann, nichts muss

Steckt Snooker also zu sehr in der Vergangenheit fest? Ja und nein. Es ist nicht einfach, für einen Sport, der sehr durch seine Traditionen lebt, moderner und offener zu werden, ohne dabei seine Wurzeln und seine Charakteristik zu verlieren. Mehr Risiko dürfte dabei in der einen oder anderen Richtung aber gerne gegangen werden. Die Ansätze dazu sind vorhanden, seien es die Anpassungen der Turnierformate, des Dresscodes oder der inzwischen durchaus gelungenen Nutzung der sozialen Medien. Die Fokussierung auf die alten Legenden des Sports könnte sich aber rächen. Mehr junge Spieler und aufstrebende Stars müssten als Experten ins Studio eingeladen werden. Es wäre doch interessant, mal einen Kyren Wilson oder Luca Brecel beim Kommentieren seiner Kollegen zuzuhören. Gleichzeitig sollten diese aufstrebenden Talente und frischen Gesichter unter den Turniersiegern zum Marketing genutzt werden. Genügend Spieler hat man dafür mit Zhao Xintong, Yan Bingtao, Jordan Brown, Fan Zhengyi oder Hossein Vafaei nach den letzten beiden Jahren durchaus in der Hinterhand. Außerdem wäre es schön, nicht bei jedem Black Ball Game eine Parallele zum WM-Finale 1985 zu ziehen. Dann schafft es Snooker auch nach der ausklingenden Spieler-Generation gut gerüstet in die Moderne – mit vielen gut beworbenen Talenten und genügend Fans, die diesen so faszinierenden und traditionsreichen Sport lieben.