Das Genie und die Trottel

Posted on November 20, 2017 by Chris

Eigentlich wollte ich nicht über das Thema schreiben und mir ist klar, dass ich eventuell einige damit vor den Kopf stoße, doch ganz unkommentiert möchte ich die "Numpties" nun nicht mehr lassen. Erst recht nicht, nachdem Ronnie O'Sullivan sowohl auf Twitter, in Interviews und nun auch in kurzen Promo-Videos und sonstigen audiovisuellen Ergüssen nicht müde wird, besagtes Thema weiterhin breit zu treten.

Vorab: Ich liebe das Spiel von Ronnie O'Sullivan! Trotz aller taktischen Finesse, die der Snookersport auch in langsamen Matches mit hart ausgefochtenen Safety-Duellen bietet, kann auch ich mich dem grandiosen Offensiv-Spielstil von 'The Rocket' nicht entziehen. Auch ich bin (vor allem als jemand, der selber Snooker spielt) immer wieder fasziniert, wenn der Engländer um den Tisch wirbelt und das Spiel auf dem grünen Tuch so herrlich einfach aussehen lässt. Nicht umsonst gehört auch Judd Trump zu meinen absoluten Lieblingsspielern. Wären es nur seine hin und wieder auftretenden Schrullen (ohne Schuhe oder wahlweise mit bunten Elton-John-Neid-Tretern spielend), könnte ich ihm das ohne weiteres verzeihen und mit einem Augenrollen darüber hinwegsehen. Aber dass sich jemand, der zweifelsohne das Aushängeschild des Snookersportes und die wohl bekannteste Person aus ebenjenem, abseits des Tisches derart respektlos gegenüber Kollegen verhält, ist unverzeihlich.

Nun bin ich natürlich auch kein Experte für britischen Humor, der in diesem Video sicherlich in großen Stücken verbaut wurde. Allerdings stößt es mir sauer auf, dass ein auf Twitter bereits ausuferndes und ständig wiederholtes Mantra des Exzentrikers eine weitere Plattform bekommt, damit auch der letzte Snookerfan begreift, dass diese ganzen hart arbeitenden Nachwuchstalente unverbesserliche Trottel sind. Dazu noch kurz zum Begriff "Numpty", für jene, die es nicht mitbekommen haben: Ronnie O'Sullivan bezeichnete auf Twitter 70 % seiner Snookerkollegen als hoffnungslose Träumer. Zudem hätte er keinen Bock mehr, in Qualifikationen ständig diesen "Numpties" (zu deutsch etwa "Trottel", "Idiot") zu begegnen. Seit diesen Aussagen auf Twitter wiederholt er sie ständig in Interviews, auf Twitter und nun auch in einem tollen Video auf Eurosport. Gemeint sind damit Spieler, die (zuvor als Amateure unterwegs) relativ neu auf der Tour sind und sich erst einen Namen machen müssen. Junge Talente eben wie Alex Ursenbacher, Lukas Kleckers, Jackson Page und viele weitere.

Was O'Sullivan ursprünglich ansprechen wollte, ist vermutlich die Größe der Main Tour. Mit dem Umschwung zu 128 Spielern und Flat Draws (alle Spieler starten in der gleichen Runde) hat sich für die Top-Spieler klarerweise einiges geändert. Vorbei die Zeiten, da sie sicher für alle Events qualifiziert waren und nur wenige Matches bis zum Titel zu absolvieren hatten. Man kann sicherlich diskutieren, ob das für alle Akteure die richtige Entscheidung war. Letztlich dominieren meiner Meinung nach aber die Vorteile: Es gibt heute viel mehr Möglichkeiten, Preisgeld zu sammeln als früher. Gleichzeitig ist die Tour fairer geworden und gibt jedem Spieler die Chance, die Rangliste nach oben zu klettern. Top-Spieler haben weiterhin viele privilegierte Turniere und Stati, bei denen sie unter sich sind (Masters, Champion of Champions, Top-Spieler der Saison beim World Grand Prix / Players Championship, Top 16 für die WM gesetzt). Für Fans ist es zudem schön, auch mal unterschiedliche Gesichter und Matches zu erleben und nicht bei jedem Turnier die gleichen. Außerdem ist nun viel mehr Bewegung in der Weltrangliste als noch vor 10-15 Jahren. Eine Reduzierung der Main Tour auf 64 Spieler wäre meiner Meinung nach ein Rückschritt.

Doch zurück zu den Numpties: Da das Video an Arroganz kaum zu überbieten ist, brauche ich darüber wohl nicht mehr allzu viel schreiben. Auch die Tatsache, knapp drei Viertel seiner Kollegen als Trottel zu bezeichnen, bedarf eigentlich keiner Erklärung. Es sollte jedem klar sein, dass das respektlos und unangebracht ist. Mich stört daran vor allem die Doppelmoral, die seitens World Snooker und der WPBSA betrieben wird: Es werden Spieler angemahnt und mit Geldstrafen belegt, die sich (mit harten Worten) über Austragungsorte beschweren, gleichzeitig werden die Numpty-Aussagen aber durchgewunken in der Hoffnung, dies motiviere die niedriger platzierten Spieler ja nur noch mehr. Sorry, aber wenn ich auf Arbeit 70 % meiner Kollegen als Idioten kennzeichne, habe ich innerhalb von 30 Minuten eine Abmahnung auf dem Tisch (es sei denn vielleicht, ich arbeite in der Politik). Auch die Kommentare zu dem Video lassen mich wieder kopfschüttelnd zurück: Wie jedes Mal verteidigen glühende Ronnie-Fans (zum Glück nicht alle!) jede noch so bescheuerte Aussage ihres Helden. Viel zu häufig enden Diskussionen darüber mit "tja, das ist halt Ronnie" oder "hahaha, ist doch nicht so schlimm, typisch Ronnie eben".

Diese Herangehensweise könnte ich (wobei das eher für Kindergartenkinder Anwendung finden sollte und nicht für Erwachsene) durchaus akzeptieren, wenn es nicht langsam überhand nehmen würde. Sind einige von Ronnies Eskapaden ja durchaus noch recht witzig oder zumindest mit einem stirnrunzelnden Schmunzeln zur Kenntnis zu nehmen, hört es bei mir irgendwann mit der Akzeptanz auf, sobald Respektlosigkeit und Sonderbehandlung überhand nehmen. Natürlich darf Ronnie O'Sullivan erwarten, vor einem wichtigen Match nicht mit Selfie-Anfragen genervt zu werden. Und natürlich ist Ronnie O'Sullivan Aushängeschild und schafft es immer noch, Ticketverkäufe explodieren zu lassen. Doch sollte er sich nicht gerade deswegen auch entsprechend benehmen? Ich erwarte nicht (zumal es utopisch wäre), dass er ein Vorzeigeprofi hinsichtlich Respekt und Einsatz abseits des Tisches wie Martin Gould, Shaun Murphy oder Kyren Wilson wird, aber ein wenig Anstand ist doch nicht zu viel verlangt, oder? Schließlich verlangt Ronnie (zu Recht!) ja auch Respekt für seine bemerkenswerten sportlichen Leistungen.

Damit möchte ich das Thema dann auch beenden. Sollte ich wegen des Textes nun Follower oder Leser verlieren, dann nehme ich das in Kauf. Ich finde allerdings, dass man gerade bei solchen Themen durchaus Stellung beziehen darf. Ich schaue Ronnie O'Sullivan weiterhin gerne zu, wenn er - wie in der letzten Woche in Shanghai - durch ein Turnier stürmt wie Judd Trump mit seinem Ferrari. Den Respekt für ihn als Person habe ich in den letzten Monaten allerdings erstmal verloren. Den muss er sich erst wieder verdienen - oder auch nicht...